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Befreien Sie Ihre Atmung!

Endlich ist der Frühling da. Beim Anblick der frischen grünen Blätter atmen wir draußen in der Natur tief durch und fühlen uns sofort gekräftigt. Das tut gut! Allerdings kann es sein, dass wir wenig später auf dem Weg zur Arbeit in der vollen U-Bahn stehen oder uns im Trubel der Stadt durch die Menschenmenge zwängen müssen. Haben Sie schon mal gespürt, dass Ihre Atmung dann flacher wird und möglicherweise unregelmäßig? Die meisten Atemzüge machen wir ja unbewusst. Dabei ist unsere Atmung vom Kontext abhängig. Im Liegen ist sie anders als im Sitzen oder Stehen. In Ruhe ist sie anders als bei körperlicher Aktivität. Die Atmung spiegelt auch, wie wir uns fühlen, was in unserem Inneren geschieht. Und sie hat Auswirkungen darauf, wie wir uns fühlen.

 

Die Atembewegung formt unseren Körper

Wussten Sie, dass wir mindestens 20.000 Mal am Tag atmen?  Wie wir atmen und vor allem wie frei wir atmen, hat einen immensen Einfluss auch unsere Gesundheit, auch auf die Faszien und auf unsere Körperstruktur. Unsere Atembewegung formt unseren Körper. Eine freie und fließende Atmung trägt entscheidend zu einer guten Körperausrichtung und zu körperweiter Beweglichkeit bei.

Leider wird die Atmung bei den meisten von uns im Lauf der Zeit flacher. Schon das stundenlange Sitzen jeden Tag führt zu einer Verkürzung der Vorderseite des Oberkörpers, ebenso die gebeugte Haltung über dem Smartphone. Auch für die Bauchorgane und für das Herz wird es dann eng. Stressbeladene Situationen können uns den Brustkorb einschnüren. Auch übermäßiges Training der äußeren Bauchmuskulatur (Stichwort „Sixpack“) verkürzt die Vorderseite des Oberkörpers. Die Angewohnheit vieler Frauen, den Bauch einzuziehen, behindert eine freie Atmung. 

Je länger die natürliche Atembewegung eingeschränkt ist, desto mehr verfilzen die Faszien. Etliche der zahlreichen Schichten, die unseren Brustkorb von außen nach innen durchziehen, verlieren ihre Gleitfähigkeit. Sie verkleben miteinander und fixieren so im Lauf der Zeit die Bewegungseinschränkung. Ein verfilztes Fasziennetz hält dann unseren Brustkorb und unsere Atmung gefangen. Rolfing-Klienten beschreiben diese Gefangenschaft häufig als das Gefühl, in einem „Panzer“ eingesperrt zu sein. Wenn dieser Panzer sich nach einer Reihe von Rolfing-Sitzungen auflöst, ist die Erleichterung groß. Endlich kann ich wieder den Raum einnehmen, der mir gebührt! Endlich kann ich auch wieder loslassen und zur Ruhe kommen!

 

Übungen für eine freiere Atmung

Für alle Wahrnehmungsübungen gilt: Wenn Sie sich ungünstiger Muster bewusst werden, urteilen Sie bitte nicht. Beobachten Sie einfach. Wenn Sie eine beschriebene Wahrnehmung beim ersten Mal nicht nachvollziehen können, werden Sie nicht ungeduldig mit sich selbst. Experimentieren Sie ein wenig oder wechseln Sie zunächst zu einer anderen Übung*.

 

1. Kann sich die Atmung entfalten?

Setzen Sie sich auf einen Stuhl. Ertasten Sie Ihr Brustbein und Ihre Schlüsselbeine und lassen die Finger darauf ruhen. Richten Sie Wirbelsäule und Kopf möglichst mühelos auf. Atmen Sie langsam und tief ein und aus, ohne Anstrengung. Spüren Sie, wie sich Brustbein und Schlüsselbeine gemeinsam mit den Rippen bei der Einatmung anheben und bei der Ausatmung senken? Vielleicht nehmen Sie auch wahr, dass sich Ihre Schulterblätter am Rücken mit der Einatmung ein wenig zueinander und mit der Ausatmung wieder auseinander bewegen. Spüren Sie, dass die Einatmung Sie jedesmal aufs Neue aufrichtet? Denn die Einatmung richtet uns tatsächlich auf. So sollte es zumindest sein.

Legen Sie Ihre Hände nun seitlich auf Ihren Brustkorb und spüren die Rippen. Können Sie sich auch zu den Seiten hin bei der Einatmung ausdehnen und Raum einnehmen? Spüren Sie dabei die Verlängerung Ihrer Wirbelsäule? Können Sie bei der Ausatmung wirklich loslassen und das Gewicht in Ihr Becken abgeben? So sollte es sein. Wenn Sie möchten, arbeiten Sie mit Visualisierung. Zugegeben, das Bild ist mechanisch, aber es funktioniert: Stellen Sie sich den Brustkorb als einen Regenschirm vor, dessen Griff im Becken ruht und der entlang einer zentralen Achse nach oben ausgerichtet ist. Bei der Einatmung öffnet sich der Schirm und nimmt nach allen Seiten Raum ein, bei der Ausatmung schließt er sich zur zentralen Achse hin.

 

2. Die Atmung im Sitzen

Nehmen Sie Ihre übliche Körperhaltung beim Sitzen ein, zum Beispiel vor dem PC. Dann werden Sie sich höchstwahrscheinlich leicht nach vorn beugen, in einer Art C-Kurve. Ihr Brustbein wird ein wenig nach unten Richtung Nabel sinken, Schultern und Kopf folgen. Wenn Sie jetzt versuchen, tief zu atmen, dann wird das nicht so recht gelingen. Vielmehr ist Ihre Atmung eher angestrengt und flach. Ihre Lunge hat schlichtweg nicht genügend Raum zur Verfügung, um sich auszudehnen. Auch die Bauchorgane werden komprimiert. Schon deshalb sollten Sie sich bei längerem Sitzen ab und zu darauf konzentrieren, sich aufzurichten und Ihre Atmung zu befreien. 

Erkunden Sie doch zusätzlich, wie Ihre Atmung reagiert, wenn Sie an ein unangenehmes Erlebnis oder eine Ihnen unsympathische Person denken. Die Erinnerung an Unangenehmes dürfte eine flachere, schnellere Atmung zur Folge haben, die vor allem im oberen Brustkorb zu spüren ist. Es könnte sein, dass Sie sich zugleich etwas ducken und erstarren. Bei der Erinnerung an ein angenehmes Erlebnis und einen Ihnen angenehmen Menschen dagegen ist es wahrscheinlich, dass Sie sich lebendiger, beweglicher und offener fühlen und eine entsprechende Körperhaltung einnehmen. Ihre Atmung wird ruhiger und tiefer, die Atembewegung größer.

 

3. Das Echo der Atmung

Die Atembewegung sollte sich fließend und ohne Stocken durch den Körper fortsetzen können. Leicht spüren lässt sich das Zusammenspiel zwischen Zwerchfell und Beckenboden. Das Zwerchfell bewegt sich bei der Einatmung einige Zentimeter nach unten und übt Druck auf die Bauchorgane aus. Der Bauch wölbt sich leicht nach außen. Wenn Sie sitzen, nehmen Sie ihr Becken als stabiles Fundament wahr. Am besten stellen Sie sich die Dreiecksfläche zwischen Ihren Sitzbeinen und dem Schambein vor und spüren diese als unterstützende Basis. Um diese Basis besser wahrzunehmen, können Sie zunächst Ihre Hände unter Ihre Sitzbeine legen, diese ertasten und leicht nach hinten und außen ziehen. Nehmen Sie die Hände wieder heraus. Nun atmen Sie tief und ruhig ein und achten ganz genau darauf, ob Sie dabei in Ihrem Becken ein leises „Echo“ spüren. Bei der Ausatmung können Sie bemerken, dass der sanfte Druck auf den Beckenboden nachlässt. Forcieren Sie nichts, entdecken Sie vielmehr. Wenn Sie schon mehr Feingespür für Ihren Körper entwickelt haben, können Sie das Echo der Zwerchfellbewegung auch im Mundboden und in den Fußsohlen spüren. Vielleicht nehmen Sie sogar wahr, dass sich ihr ganzer Körper mit der Einatmung ausdehnt, Sie größer und weiter werden, die Haut durchlässig ist. 

 

4. In alle Richtungen Raum einnehmen

Nehmen Sie sich hierzu am besten eine Pilatesrolle von mindestens 90 Zentimetern Länge. Setzen Sie sich auf ein Ende und legen sich dann rücklings mit der gesamten Wirbelsäule und dem Kopf auf der Rolle ab. Die Rolle unterstützt Sie vom Kreuzbein bis zum Schädel. Stellen Sie die Beine angewinkelt auf den Boden und nehmen Sie die Arme entspannt zur Seite, mit den Handrücken zum Boden. Lassen Sie die Schwerkraft wirken, die Vorderseite des Brustkorbs öffnet sich wie von selbst. Es könnte sein, dass Sie sich schon jetzt zu einem spontanen tiefen Atemzug hinreißen lassen. Atmen Sie zunächst etwa zehn Mal bewusst in Ihre Flanken, langsam und ruhig. Spüren Sie jedesmal bei der Einatmung die Ausdehnung zur Seite, bei der Ausatmung lassen Sie Ihre Wirbelsäule auf der Rolle zur Ruhe kommen, die Rippen können sich entspannen. Nun spüren Sie bei der Einatmung die Ausdehnung Ihres Oberkörpers in Richtung Decke und zugleich an Ihrem Rücken nach unten zur Rolle. Auch das wiederholen Sie einige Male. Ebenso können Sie der Länge nach mit der Atmung wachsen, versuchen Sie es. Anschließend nehmen Sie einige tiefe Atemzüge und weiten sich bei der Einatmung in alle Richtungen. Übertreibe ich, wenn ich sage, dass Sie selten so viel Raum zum Atmen hatten? Die Rolle als Unterstützung erleichtert es Ihnen, bei der Ausatmung loszulassen und zu entspannen. Auch den Schultern tut diese Übung gut.

 

* Diese Übungen sind meinem Buch "Aufrecht und geschmeidig" entnommen.