Vor mehr als 100 Jahren sprach der Begründer der Osteopathie, A.T. Still, von Faszien als „Zweigstellen des Gehirns“. Er war überzeugt davon, dass dieses körperweite Netzwerk aus Bindegewebe mit dem zentralen Nervensystem kommuniziert. Still forderte, Faszien "so respektvoll" zu behandeln wie das Gehirn selbst.
Ida Rolf, die Begründerin von Rolfing® Strukturelle Integration, und auch Moshe Feldenkrais, der Begründer der gleichnamigen Methode, schrieben dem Bindegewebe noch vorwiegend mechanische Bedeutung zu. Ida Rolf wusste, dass Faszien dem Körper seine Form verleihen und dass es sich um ein Netzwerk handelt, in dem die Spannungen balanciert werden müssen, damit dieser Körper sich frei aufrichten und bewegen kann. Das gilt natürlich auch heute noch. Doch die spannende sensorische Funktion der Faszien hat erst die moderne Wissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt und belegt. Im Rolfing von heute werden aktuelle Erkenntnisse der Forschung integriert.
In den vergangenen Jahrzehnten hat die Faszienforschung belegt: Faszien sind reich bestückt mit sensorischen Rezeptoren, die mittels bioelektrischer Impulse ohne Unterlass Signale über das Rückenmark ans Gehirn schicken. Sie sind Sinnesorgan und körperweites Informationssystem.
Faszien und Körperwahrnehmung
Mittlerweile schätzen Wissenschaftler, dass das Fasziengewebe, das im Schnitt gut 12 Kilogramm unseres Körpergewichts ausmacht, sage und schreibe etwa 250 Millionen Nervenendigungen beherbergt. Diese Rezeptoren haben verschiedene Funktionen. Der Nobelpreis für Medizin und Physiologie wurde 2021 für die Erforschung sensorischer Rezeptoren im menschlichen Körper verliehen. Und das hat neue Aufmerksamkeit auf die Faszien gelenkt.
PROPRIOZEPTION: Durch ihre Rezeptoren sind gesunde Faszien in der Lage, über jede Veränderung von Zug und Druck, von Lage oder Bewegung Rückmeldung zu geben. Die Informationen werden zumeist unbewusst verarbeitet und sorgen dafür, dass wir uns im Raum orientieren, uns koordiniert bewegen und unsere Haltung ständig anpassen können.
INTEROZEPTION: Die Wahrnehmung kann sich auch auf die Abläufe im Körperinneren, zum Beispiel Verdauung, Herzaktivität und Atmung beziehen. Dann ist von Interozeption die Rede. Und zum Beispiel auch wie wir uns fühlen - wie kräftig, energievoll oder erschöpft -, das ist Interozeption.
NOZIZEPTION: Viele Nervenendigungen im Körper können sowohl der Propriozeption dienen als auch Schmerz signalisieren. Wenn sie allerdings Schmerz signalisieren, wird ihre Fähigkeit zur Propriozeption unterdrückt. So kommt es, dass man zum Beispiel bei einem Hexenschuss gar nicht mehr weiß, wie man gerade stehen sollte.
verschiedene Typen von Faszien-Rezeptoren
Forscher haben in den Faszien verschiedene Typen von Rezeptoren mit unterschiedlichen „Charaktereigenschaften“ gefunden. Wie der Name schon sagt, können Mechanorezeptoren durch mechanische Reite stimuliert werden - durch Zug, Dehnen, Druck oder Vibration. Mechanische Einwirkung aktiviert diese Rezeptoren, die dann bioelektrische Signale erzeugen und an das Nervensystem und den Körper weiterleiten. Die ist für die manuelle Therapie von großer Bedeutung, so auch für uns Rolfer.
RUFFINI-REZEPTOREN:
Sie befinden sich in allen Arten von Fasziengewebe und vermitteln Entspannung, wenn sie stimuliert werden. Eine besondere Dichte an Ruffini-Rezeptoren hat man in Faszien festgestellt, die sich häufig stark dehnen. Dazu gehören unter anderem die Lumbalfaszie des Rückens, die Dura Mater im Wirbelkanal und Schädel, Muskelfaszien, Gelenkkapseln, tiefe Faszien der Hand und Bänder an Gelenken.
Ruffini-Rezeptoren haben eine geringe Reizschwelle. Deshalb reagieren sie gut auf ruhige Manipulation.
Langsame Faszientechniken wie beim Rolfing wirken auf sie besonders gut. Und ihre Stimulation führt zu einer Beruhigung des Sympathikus - des Teils des autonomen Nervensystems, der bei Stress aktiv ist. So kommt der Gegenspieler des Sympathikus, der Parasympathikus zum Zug - der Teil des autonomen Nervensystems, der für Entspannung und Regeneration des Körpers sorgt.
Verklebte und verfilzte Muskelfaszien zum Beispiel können die Empfindlichkeit solcher Rezeptoren deutlich beeinträchtigen und dadurch die Propriozeption.
PACINI-REZEPTOREN:
Dieser Rezeptortyp ist ebenfalls in allen Arten von Faszien zu finden, von der Oberfläche bis in die Tiefe des Körpers..
Die Stimulierung von Pacini-Rezeptoren dient dem Körper vor allem als propriozeptives Feedback. Durch langsamen Druck oder ruhige Griffe fühlt sich dieser Rezeptortyp weniger angesprochen. Er braucht dynamische Wechsel wie Vibrationen oder ruckartige Behandlungstechniken. Hier kann also die Matrix-Rhythmus-Therapie, die ich in meiner Praxis anbiete, wirksam sein.
GOLGI-REZEPTOREN:
Früher dachte man, sie kämen nur in Sehnen vor, man hat sie aber auch in anderen Fasziengeweben gefunden. Golgi-Rezeptoren dienen vor allem der Propriozeption und auch ihre Stimulation sorgt für eine Tonus-Senkung der Muskulatur. Golgi-Rezeptoren sprechen vor allem auf kräftige Dehnreize an, und eine passive Dehnung reicht dabei nicht aus. Sie reagieren, wenn der Behandler das Gewebe kräftig manipuliert, möglichst verbunden mit gleichzeitiger Muskelanspannung/Bewegung des Klienten.
PIEZO2-REZEPTOREN:
Dieser Rezeptortyp ist seit dem Nobelpreis 2021 "ins Rampenlicht" gerückt. Piezo2-Rezeptoren kommen unter anderem in der Haut, in Sehnenspindeln und Muskelspindeln vor. Sie reagieren empfindlich auf leichte mechanische Reize, aber offenbar weniger auf Vibration, und spielen eine wichtige Rolle bei der Propriozeption.
Muskelspindeln sind vorwiegend im Perimysium (der äußeren "Faszien-Verpackung" des Muskels) eingebettet. Forscher gehen davon aus, dass eine Versteifung des Perimysiums die Empfindlichkeit dieser Rezeptoren erheblich beeinträchtigen kann - und damit die Propriozeption. Eine solche Versteifung und Verfilzung des Fasziengewebes kommt zum Beispiel bei längerer Ruhigstellung vor. Interessant auch: Die Beeinträchtigung von Piezo2-Rezeptoren wurde unter anderem bei Jugendlichen mit Skoliose festgestellt.
INTERSTITIELLE REZEPTOREN:
Sie sind mit etwa 80 Prozent aller sensorischen Rezeptoren bei weitem der häufigste Rezeptor-Typ im Körper und kommen fast überall vor (selbst innerhalb von Knochen). Die oben beschriebenen Golgi-, Paccini- und Ruffini-Rezeptoren machen vergleichsweise nur 20 Prozent aus.
Die interstitiellen Rezeptoren sind sehr dünn und reagieren empfindlich auf mechanische Reize. Wenn sie zu stark stimuliert werden, können sie zu Nozizeptoren werden, also Schmerzempfindung auslösen. Das tun sie auch dann, wenn die extrazelluläre Matrix (die Lebenswelt der Zellen) sich zum Nachteil verändert - sei es durch Übersäuerung des Körpergewebes oder auch durch Bewegungs-mangel zum Beispiel. Dann können diese Rezeptoren dem Nervensystem Schmerz signalisieren, um eine mögliche Gewebe-schädigung zu melden. Erforscht wurde das vor allem für die große Lumbalfaszie des Rückens.
Interessant an interstitiellen Rezeptoren ist ihr Rollenwechsel. Sie können als Mechanorezeptoren fungieren, die uns bei der Properiozeption helfen, sie können eben aber auch Schmerz signalisieren. Wenn sie zur Nozizeption wechseln, ist die Propriozeption gehemmt. Je stärker der Schmerz ist, desto mehr kommt uns also das feine Spüren für unseren Körper und die gesunde Körperspannung abhanden. Und umgekehrt: Wenn wir das Gespür für unseren Körper, die Propriozeption, kultivieren und verfeinern, verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass interstitielle Rezeptoren Schmerz signalisieren. Da sind wir wieder beim Rolfing und der Verfeinerung der Körperwahrnehmung, die mit dieser Methode einhergeht.
IN kürze
Faszien sind dicht mit Mechanorezeptoren bestückt. Eine gezielte Stimulierung dieser Rezeptoren kann den Muskeltonus senken, über das autonome Nervensystem für Entspannung sorgen, zu einer „Bewässerung“ der Faszien beitragen und zusätzlich die Propriozeption verfeinern. Allerdings können Rezeptoren in den Faszien auch Schmerzquelle sein. Die aktuellen Erkenntnisse der Faszienforschung sind ein Lichtblick für manuelle Therapeuten wie uns Rolfer®.
Für Robert Schleip, Rolfer und Faszienforscher an der TU München, sind die Faszien als Sinnesorgan seit vielen Jahren ein Schwerpunkt. Die Wahrnehmung des Körpers findet zu einem großen Teil in den Faszien statt. Schleip hat 2023 mit seiner Forscher-Kollegin Katja Bartsch einen Artikel veröffentlicht, der die Erkenntnisse gut zusammen fasst und der eine der Quellen dieses Blogposts ist.