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Tensegrity - Körperarchitektur neu gedacht

Stellen Sie sich ein Skelett vor, wie es im Anatomieunterricht verwendet wird. Es besteht aus Knochen, die mit Drähten verbunden sind. Medizinstudenten lernen, wo an diesen einzelnen Knochen welche einzelnen Muskeln angeheftet sind und wie diese uns bewegen. Aus dieser Sicht ist der Körper eine mechanische Konstruktion mit Flaschenzügen und Hebeln. Nach diesem Erklärungsmodell sind es die knöchernen Strukturen, die den Körper tragen und ihm Stabilität verleihen.

 

Allein das Wort „Wirbel-Säule“. Der Begriff impliziert, die Wirbel seien - mit Bandscheiben zwischendrin - wie Bauklötze übereinander geschichtet und trügen Gewicht wie die Säulen in einem antiken Tempel. Nach dieser Denkweise lastet das Gewicht des Schädels auf der Halswirbelsäule und das Gewicht von Schädel und Oberkörper lastet auf der Lendenwirbelsäule - wie ein Stapel Bauklötze. Diese Sichtweise ist definitiv überholt!

 

Therapeutische Ansätze wie das Rolfing und immer mehr Wissenschaftler betrachten den Körper heute als Tensegrity-Struktur. Der englische Begriff Tensegrity setzt sich zusammen aus tension (Spannung) und integrity (Ganzheit/Zusammenhalt). Der Künstler Kenneth Snelson wurde für seine faszinierenden Skulpturen berühmt, die er nach dem Tensegrity-Prinzip schuf, und der Architekt Richard Buckminster Fuller baute nach diesem Prinzip eindrucksvolle Kuppeln aus Stahl und Glas. Tensegrity-Strukturen zeichnen sich dadurch aus, dass Stabilität und Zusammenhalt durch eine kontinuierliche Zugspannung - und nicht durch Kompression wie in der üblichen Bauweise - gewährleistet werden.

 

 

 

Tensegrity-Strukturen bestehen aus starren Druck- und elastischen Spannungskomponenten. Dabei berühren sich die starren Komponenten nirgendwo direkt, sondern sind über die elastischen Komponenten verbunden. Die elastischen Komponenten wiederum stehen unter Spannung und verteilen diese Spannung auf die gesamte Konstruktion. Es handelt sich um eine dynamische Konstruktion, die sich selbst stabilisiert.

Wirkt eine Kraft auf eine Stelle eines Tensegrity-Gebildes ein, passt sich also die ganze Struktur an, die einwirkende Kraft wird aufgefangen und auf die gesamte Konstruktion verteilt.

In den vergangenen Jahrzehnten haben Wissenschaftler wie Stephen M. Levin die Tensegrity als ein universelles biologisches Modell identifiziert. Vom Virus bis zum Wirbeltier, selbst in jeder einzelnen Zelle lässt sich das Tensegrity-Prinzip entdecken. Man spricht von Biotensegrity. Sie revidiert die jahrhundertealte Vorstellung, wonach das Skelett von Lebewesen das form- und haltgebende Gerüst eines Körpers bildet, zugunsten der Vorstellung eines körperweiten Zugspannungsnetzes (Faszien), in dem die Druckelemente (bei Wirbeltieren die Knochen) „schwebend“ eingebunden sind. In diesem Video erklärt Thomas Myers (Autor von Anatomy Trains) die Biotensegrity.

Eine neue Sichtweise und ihre Möglichkeiten

Natürlich sind Lebewesen sehr viel komplexer und gewissermaßen unübersichtlicher als eine einfache Tensegritätsstruktur. Dennoch wird durch ein solches Modell klar, dass alles mit allem zusammenhängt und eine Veränderung an einer Stelle sich immer auf das Ganze auswirkt. 

Das Tensegritätsmodell verdeutlicht anschaulich, dass es nicht die Knochen sind, die für Stabilität und für Aufrichtung des Körpers sorgen. Knochen berühren sich normalerweise tatsächlich nirgendwo im Körper direkt, sondern sind flexibel miteinander durch bindegewebige Strukturen verbunden - durch Knorpel, Kapseln, Bänder und Sehnen, die wiederum in Muskelfaszien übergehen. Innerhalb eines Spannungsnetzwerks aus Bindegewebe (Faszien) werden die Knochen gehalten und bewegt. Mit diesem Konzept ist auch die Wirbelsäule besser zu verstehen. Sie ist keine tragende Säule, sondern eine höchst bewegliche Wirbelkette aus vielen Teilen, die von Bändern und anderen Faszienstrukturen sowie kleinen Muskeln verspannt sind. Klicken Sie auf das Foto, um sich die Bedeutung von Tensegrity in Bezug auf die Wirbelsäule von Dr. Moses Bernard anschaulich erklären zu lassen.

 

Ein wesentliches Merkmal der Biotensegrität ist, dass innerhalb des Fasziennetzes ununterbrochen Spannung besteht. Wichtig ist dabei die Ausgewogenheit im Fasziennetzwerk. Sie entscheidet darüber, wie geschmeidig Muskeln arbeiten können, wie Knochen und Wirbel positioniert sind, wie Gelenke belastet werden, ja auch wie frei wir atmen und sich Organe bewegen und funktionieren können.

Die Betrachtung des Körpers als Tensegritätsstruktur ermöglicht ein ganzheitliches Denken in der Therapie sowie Strategien, bei denen lokale Symptome in größeren Zusammenhängen gesehen und behandelt werden. Dann wird klar, warum das alleinige Herumdoktern an lokalen Schmerzpunkten meist wenig sinnvoll ist. Zugleich erklärt sich, warum beispielsweise bei Problemen mit Hüfte oder Knie schon die Behandlung der Füße Abhilfe schaffen kann.