Strukturelle Integration und Rolfing Movement Integration
von Claudius Nestvogel
in ballettanz, europe’s leading dance magazine, August/September 2002
Eine alte Dame mit beeindruckender Ausstrahlung sitzt in einem Schaukelstuhl und beobachtet ihre Schüler, die auf Massageliegen um sie herum Klienten bearbeiten.
„Es ist unter deinem Mittelfinger“, ruft sie quer durch den Raum einem von ihnen zu, der gerade versucht, die entscheidende Stelle zu finden, an der er den Druck, der Haltung verändert, ansetzen soll.
Ida Rolf, berühmt für ihren „Röntgenblick“, mit dem sie die genauen Stellen von verspanntem Gewebe auch tief im Körper erkennen kann, leitet
eine Ausbildungsgruppe am berühmten Esalen-Institut in Kalifornien in den 60er Jahren. Fritz Perls, der Begründer der Gestalt-Therapie, hat sie hierher gebracht, nachdem sie den schweratmigen
Kettenraucher mit hoffnungslosen Herzproblemen durch ihre Arbeit wieder fit gemacht hat.
Nun ist sie inmitten der Gegenkultur, in der sich experimentierfreudige Menschen vom Hippie bis zum Managementprofi treffen, um mit Hilfe von neuen Methoden wie Encounter, Gestalt, Bioenergetik, Feldenkrais, Schamanismus und alternativer Psychiatrie Wege für eine zukünftige Gesellschaft zu finden.
Nachdem Ida Rolf seit den 40er Jahren ihre Arbeit vornehmlich Osteopathen und Chiropraktikern vorgestellt hatte, die darin entweder nur ein paar
weitere Grifftechniken sahen, die sie ihrem Repertoire hinzufügen konnten oder aber die Arbeit unter eigenem Namen zu vermarkten suchten, fand sie hier nun endlich wirkliche Anerkennung. Staunend
beobachteten die Besucher und Residenten in Esalen, wie unter Ida Rolfs Händen, Knöcheln und Ellbogen aus krummen Zivilisationsgeschädigten wieder aufrechte, energievolle Menschen
wurden.
Das „Rolfing“, wie ihre Methode der Strukturellen Integration von ihren dankbaren Schülern bald genannt wurde, avancierte in der Folge zum Modell alternativer „Körperarbeit“: Es beeinflusste viele andere Methoden und brachte eine Reihe von Ablegern hervor, wie z.B. Hellerwork, Soma, Zen-Bodytherapy, Rebalancing, etc. 1972 schließlich gründete Dr. Rolf in Boulder, Colorado das Rolf-Institut als Zentrum für Aus- und Weiterbildung.
Als eine der ersten Frauen, die in den USA zu einem naturwissenschaftlichen Studium zugelassen wurde, war sie es gewohnt, neue Wege zu gehen.
Viele Jahre der Suche, des Lernens und Experimentierens hatte sie damit verbracht, Lösungen für eigene und familiäre gesundheitliche Probleme zu finden. Neben Homöopathie, Chiropraktik und
Alexander-Technik waren es vor allem Yoga und Osteopathie, die ihr Denken und Handeln prägten. Als promovierte Biochemikerin war sie vom Bindegewebe des Körpers fasziniert, vor allem von den
Faszien. Das sind zähe Häute, die die Muskeln durchdringen und sie, die Organe, die Knochen und den ganzen Körper umhüllen und ihm seine Form geben. Gleich den Osteopathen glaubte sie, dass diese
Häute aufgrund von Verletzungen und jahrelangem schlechten Gebrauch des Körpers sich verkürzen, überdehnen und miteinander verkleben können - und dass sie durch präzise ausgerichteten Druck
wieder in die richtige Fasson gebracht werden können, da sie dabei vorübergehend „fließend“ werden. Für Ida Rolf ist der Körper durch Arbeit an den Faszien regelrecht formbar.
Das Ideal der menschlichen Form lernte sie bei Amy Cochran, einer osteopathischen Ärztin kennen, die ein System der Haltungsschulung entwickelt
hat, das die innerste gelenknahe Muskulatur stärkt und die großen Muskeln der äußeren Schichten von überflüssiger Anstrengung befreit. Ida Rolf entwickelte dieses Ideal weiter zum „Template“ -
dem Maßstab, an dem ihre Klienten und die Ergebnisse ihrer Arbeit mit ihnen gemessen werden. Sie übernahm auch große Teile der Übungen Cochrans; entsprechend ihrem Charakter zog sie es jedoch
vor, die wünschenswerten Veränderungen der Körperform durch energische Manipulationen am Gewebe selbst vorzunehmen.
Zehn Sitzungen lang bearbeitete sie systematisch nacheinander bestimmte Regionen des Körpers, um ihn von Fuß bis Kopf, von den äußeren bis zu den inneren Schichten so in der Schwerkraft auszurichten, dass er von ihr nicht niedergedrückt, sondern aufgerichtet wird - ähnlich, wie die Spannung der Zeltleinen ein Zelt aufrichtet. Da Körper und Geist nur zwei Seiten derselben Medaille sind, wirkt ihre Arbeit damit auch ordnend auf seelisches und geistiges Geschehen.
Fritz Perls hatte ihr in Esalen regelmäßig Klienten geschickt, um deren psychotherapeutischen Prozess zu beschleunigen. Auch andere wurden bald
auf diesen „psychotherapeutischen“ Effekt aufmerksam und verbanden daher Rolfing und Psychotherapie miteinander - so entstanden u.a. „Posturale Integration“, „Gestalt-Körperarbeit“, „Lomi“ und
später „Hakomi Integrative Somatics“. Ida Rolf wollte jedoch von psychotherapeutischen Ansätzen nichts wissen - sie sah in einem Großteil der Psychologie einen notdürftigen Ersatz für noch
unverstandene Physiologie.
Als sie 1979 starb, hinterließ sie ein Erbe struktureller Arbeit mit einem bestimmten Körperideal, der Faszientheorie, der Fragestellung einer
optimalen Beziehung zur Schwerkraft und dem „Rezept“ der zehn Sitzungen: In jeder Sitzung, die systematisch auf der vorangegangenen Arbeit aufbaut, wird mit bestimmten Bereichen des Körpers
gearbeitet, um jeweils bestimmte Ziele zu erreichen. Den Kern dieses klassischen Rolfing bilden jedoch immer das visuelle Erkennen von strukturellen Beziehungen und die praktische manuelle Arbeit
daran, die nicht an bestimmte „Griffe“ oder Techniken gebunden und daher auch nicht so einfach zu vermitteln ist.
Schon zu Lebzeiten Ida Rolfs gab es darum immer wieder intensive und anregende Diskussionen um die Theorie und Praxis. Strukturelle Integration
war nie etwas endgültig Festgelegtes, denn wie alle Pioniere setzte sich Ida Rolf immer mit Neuem auseinander, und lebenslang mit Moshe Feldenkrais, den sie schon früh in England kennengelernt
hatte. Aufgrund ihrer unterschiedlicher Auffassungen führten sie viele kontroverse Diskussionen und schätzten dabei einander sehr.
Nach ihrem Tod gingen die Meinungen zwischen den Kollegen verständlicherweise weiter auseinander. Viele waren mit der oft schmerzhaften
Intensität der Manipulation nicht zufrieden und suchten sanftere und ebenso effektive Wege, die Körperstruktur nachhaltig zu beeinflussen. Teile des alten Körperideals wurden angesichts neuer
Erkenntnisse aus Biomechanik und Anatomie in Zweifel gezogen. Dem mechanisch-biochemisch orientiertem Faszienmodell ist ein neurophysiologisch fundiertes Modell gegenübergestellt worden. Das
„Rezept“ der zehn Sitzungen erschien manchen veraltet, die statt dessen daraus Arbeits-Prinzipien extrahierten, mit denen jeweils individuell unterschiedliche Behandlungstrategien erstellt werden
können.
An diesem letzten Punkt schieden sich die Geister derart, dass sich das Rolf-Institut teilte: Die Gilde für Strukturelle Integration fühlt sich
der ursprünglichen Arbeit Ida Rolfs, wie sie sie im „Rezept“ der zehn Sitzungen zusammengefasst hat, verpflichtet. Dagegen öffnet sich das Rolf-Institut zunehmend anderen Möglichkeiten und
integriert und adaptiert in den letzten Jahren immer mehr Verfahren der Osteopathie, vor allem Craniosakral-Arbeit und Viszerale Manipulation, bis hin zu spekulativen Konzepten über die
Membransysteme des Körpers und ihre Behandlung.
Ida Rolf sah ihre Methode als einen Bestandteil des „Human Potential Movements“ im wahrsten Sinne des Wortes. Sie hat wiederholt erklärt, dass
Rolfing keine Heilbehandlung ist, sondern eher ein pädagogisches Vorgehen: Mit Atmen, Spüren und kleinen Bewegungen beteiligt sich der Klient aktiv am Geschehen und lernt sich und seinen Körper
kennen. Trotzdem wurde die Strukturelle Integration vielfach durch das bekannt, was Ida Rolf immer als kostenlose Zugabe bezeichnete, nämlich das Verschwinden von Schmerzen und Einschränkungen.
So gibt es heute unter anderem auch jene Rolfer, die als Heilpraktiker und Ärzte diesen Aspekt besonders hervorheben und sich bemühen, moderne manualtherapeutische Verfahren und Konzepte in ihre
Arbeit zu integrieren.
Am anderen Ende dieses breiten Spektrums der Rolfing-Vielfalt wirken die Ideen von Amy Cochran in veränderter Form weiter. Ida Rolf hatte
Cochrans Bewegungen immer schon während der Sitzungen zur Ausrichtung der Klienten benutzt. Dorothy Nolte, die schon in den 50er Jahren Rolferin geworden war, erarbeitete daraus ein
eigenständiges System von Unterrichtsstunden, das sie „Structural Awareness“ nannte. Ida Rolf selbst war überrascht von den Resultaten dieser Kombination aus Spüren, Bewegung und
Atem.
Ende der 60er Jahren begann Ida Rolf eine Kooperation mit der Bewegungsexpertin Judith Aston, aus der das „Structural Patterning" hervorging.
Judith Aston trennte sich später vom Institut und nannte ihre Arbeit von da an „Aston Patterning“. Ende der siebziger Jahre fand sich eine Gruppe von Rolfern zusammen, um einen Programm für
Bewegungsschulung zu erstellen. Denn es war immer klar gewesen, dass die reine strukturelle Arbeit in vielen Fällen einer Ergänzung bedurfte, um Klienten zu zeigen, wie sie ihr neugewonnenes
Potential in alltäglichen Situationen nutzen konnten.
Das war der Beginn der „Rolfing Movement Integration", die, aufbauend auf Rolfs, Noltes und Astons Arbeit zunehmend weitere Aspekte - auch aus
anderen Methoden wie z.B. Feldenkrais, Bartenieff-Fundamentals, Focusing, NLP, integrierte und sich zu einem sehr kreativen offenen Ansatz gemausert hat.
Er vermittelt dem Klienten, wie er zu einer Aufrichtung von innen heraus gelangen kann, bei der er sich leicht fühlt, die Stützkraft der Erde
optimal ausnutzt, reaktionsbereit ist, länger wird und in seinen Handlungen den ganzen Körper von Kopf bis Fuß harmonisch einsetzt. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit persönlichen
Einstellungen zu Haltung, Bewegung und Körperlichkeit.
Durch den Einfluss des Rolfing Movement wird auch deutlich, wie wirksam und wie wichtig fundierte Arbeit mit aktiver Bewegung und spürender
Bewusstheit ist, die nicht selten den Rahmen liefert, in dem sich erst die strukturelle Arbeit am Klienten voll entfalten kann. In diesem Bereich des Spektrums finden sich daher sowohl diejenigen
Rolfer wieder, die ein klares pädagogisches Verständnis von ihrer Arbeit haben, als auch diejenigen, die eher ein neurophysiologisches Theoriemodell bevorzugen.
Es ist eine großartige Leistung der Gemeinschaft der Rolfer, auch heute noch die vielen divergenten Meinungen und Arbeitsweisen als
unterschiedliche Ausformungen des Impulses, den Ida Rolf gab, zu diskutieren und fruchtbar werden zu lassen. So umfasst heute die Strukturelle Integration eine große Bandbreite an
Berührungsmodalitäten, aktiven Körper- und Bewegungsexplorationen und theoretischen Modellen. Waren es früher die intensive Arbeitsweise und das 10-Stunden Protokoll, die - vielfach kopiert - das
Rolfing zur „Mutter“ der Körperarbeit gemacht haben, bleibt es das heute auch durch die große Bandbreite der Arbeit, die in der fortwährenden Auseinandersetzung mit Struktur und Funktion des
Menschen, seiner Beziehung zur Schwerkraft und seiner Formbarkeit herangereift ist.